Am 27. Prozesstag hat die Staatsanwaltschaft eine überraschende Neubewertung des Falls vorgenommen. Statt wie bisher von vorsätzlichem Handeln auszugehen, käme auch Fahrlässigkeit in Betracht. Die Staatsanwältin begründet diese Neubewertung mit der Annahme eines sogenannten Erlaubnistatbestandsirrtums. Die angeklagten Polizisten wären möglicherweise bei ihren Maßnahmen fälschlicherweise von einer „Notwehrsituation“ ausgegangen. Die Staatsanwältin hat angeregt den Angeklagten entsprechende rechtliche Hinweise zu erteilen.
Der vorsitzende Richter erteilt dann auch am 28. Prozesstag die für den jeweiligen Angeklagten zutreffenden Hinweise.
Der Erlaubnistatbestandsirrtum
Der Erlaubnistatbestandsirrtum ist eine recht komplexe rechtliche Thematik. Das erkennt man schon daran, dass sich 5 verschiedene juristische Theorien damit befassen, wie der Irrtum des Täters über die tatsächlichen Umstände zu bewerten ist und welche rechtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben. Wir können das Thema hier nur sehr verkürzt und vereinfacht betrachten.
Von den verschiedenen Irrtümern, Verbotsirrtum, Erlaubnisirrtum (Erlaubnisgrundirrtum, Erlaubnisgrenzirrtum), Erlaubnistatbestandsirrtum, denen ein Täter unterliegen kann, stellt die Staatsanwaltschaft nun auf den Erlaubnistatbestandsirrtum ab.
Beim Erlaubnisirrtum geht es darum, ob ein Täter seine Tat irrigerweise für erlaubt hält. Dabei hat der Täter eine Fehlvorstellung über rechtliche Wertungen. Beispiel: Ein Vater schlägt seinen minderjährigen Sohn, weil er findet, sein Sohn habe etwas falsch gemacht. Dabei denkt der Vater, ihm stehe ein elterliches „Züchtigungsrecht“ zu.
Bei einem Erlaubnistatbestandsirrtum hingegen irrt der Täter über Tatsachen. Der Täter stellt sich Umstände vor, bei deren Vorliegen sein Handeln gerechtfertigt wäre. Wenn die Situation, die sich der Täter vorstellt, der Wahrheit entsprechen würde, wäre seine Tat auch gerechtfertigt.
Ein spektakuläres Beispiel ist nach BGH NStZ 2012, 272 der Fall eines „Hells Angels“, welcher fest davon überzeugt gewesen sein soll, dass ein Mitglied der verfeindeten „Bandidos“ irgendein Mitglied der „Hells Angels“ töten wolle. Als er um 6 Uhr morgens aufgewacht sei, weil er ein lautes Knacken an seiner Tür hört, schießt er zweimal durch die Tür und trifft dabei einen Polizeibeamten tödlich. Als er bemerkt, dass es sich vor der Tür um Polizeibeamte handelt, lässt er sich widerstandslos festnehmen. Hier ist wohl der Tatbestand des § 212 StGB (Totschlag) verwirklicht. Eine Rechtfertigung über die Notwehr kommt allerdings nicht in Betracht, weil tatsächlich kein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff vorliegt und es somit an der Notwehrlage gemäß § 32 StGB (Notwehr) fehlt. Es stand die Polizei vor der Tür im Rahmen einer rechtmäßigen Hausdurchsuchung und nicht die „Bandidos“.
Hätte aber ein „Bandidos“ mit der Absicht ihn zu töten vor der Tür gestanden wäre seine Reaktion gemäß § 32 StGB (Notwehr) gerechtfertigt gewesen. Damit befindet sich der „Hells Angel“ also im Irrtum und es kommt § 16 StGB (Irrtum über Tatumstände) ins Spiel. Jetzt bleibt noch die Frage offen, ob dieser Irrtum vermeidbar war. In dem konkreten Fall war der Irrtum wohl nicht vermeidbar. Damit schied auch eine Strafbarkeit nach § 222 StGB (Fahrlässige Tötung) aus.
Im Fall der angeklagten Polizisten geht die Staatsanwaltschaft wohl davon aus, dass deren Irrtum vermeidbar war. Damit kommt also eine Strafbarkeit nach § 222 StGB (Fahrlässige Tötung) oder § 229 StGB (Fahrlässige Körperverletzung) in Betracht.
Im Zweifel für den Angeklagten
Der vorsitzende Richter stellte noch grundsätzliche Überlegungen zu dem Fall an. „Wir können nicht in den Kopf des Geschädigten schauen.“, sagte er. „Wir wissen nicht, was er im Sinn hatte, als er sich erhob und mit dem Messer in der Hand in Bewegung setzte.“ Nach dem Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ könne man also auch nicht ausschließen, dass Mouhamed tatsächlich angreifen wollte. Dann läge tatsächlich eine „Notwehrsituation“ vor.
Der Abspann
Damit endete die Verhandlung nach weniger als einer viertel Stunde.
Nach dem offiziellen Ende der Verhandlung war einer der Zuschauer wohl von dem Vorgetragenen überfordert und wurde im Saal laut. „Entweder man macht das hier ganz oder gar nicht“, soll er gerufen haben, wie die Ruhr-Nachrichten berichtet. Nach dem Verlassen des Gerichtsgebäudes durch den Besuchereingang gibt es weitere lautstarke Unmutskundgebungen.
Wie geht es weiter?
Im nächsten Termin sollen noch zwei Zeugen gehört werden. Danach soll die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer halten, die Nebenklage folgt dann wohl am dann folgenden Termin.
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